In Wirklichkeit sieht alles anders aus!

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

„In Wirklichkeit sieht alles anders aus, als es wirklich ist.“ Mit dem Zitat von Stanislaw Jerzy ließe sich meine Geschichte kurz und knapp zusammenfassen. Sie begann in „Jaco“ einem kleinen Ort in Costa Rica. Wer von Euch hier schon einmal an der Pazifikküste war, weiss, wie breit und lang die Strände sind. Wochentags sind sie schön leer – an den Wochenenden hingegen herrscht ein quirliges Miteinander von Familien und Freunden. Es wird gegrillt, gelacht, gefeiert und die pure Lebensfreude schlägt einem entgegen.

Abseits dieser fröhlichen Gemeinschaften sah ich ihn zum ersten Mal, als er versuchte total unbeholfen von seinem Badetuch aufzustehen und das dauerte! Hin und wieder schaute ich zu ihm rüber und sah, wie er sich auf den Weg Richtung Meer begab. Er zog sein rechtes Bein umständlich hinter sich her. Das erinnerte mich an die großen Schildkröten, denn auch die bewegen sich ganz langsam.

Am nächsten Morgen sah ich ihn auf einer Liege am Pool, einen dicken Wälzer lesen. Nach einiger Zeit stand er auf, nein, er versuchte es – wie am Vortag – und das dauerte wieder eine ganz lange Weile. Von den umstehenden Liegen hörte ich leises Kichern, das lauter wurde, als er in den Pool steigen wollte. Sie steckten die Köpfe zusammen und amüsierten sich über ihn. Er hat nichts davon mitbekommen oder er tat nur so, jedenfalls zeigte er keinerlei Reaktion.

Beim Abendessen saßen einige Gäste in gemütlichen Grüppchen auf der Terrasse zusammen und hatten ihren Spaß. Ich sah ihn alleine und abseits an einem Tisch sein Bier trinken. „Guck mal, der Spasti kann ja Bier trinken. Das ist wohl das einzige was er kann, wenn er sonst schon nix geregelt kriegt“, tuschelten sie über ihn. Ich traute meinen Ohren nicht und schämte mich.

Einige Tage später war ich wieder auf dem Weg zum Strand, als ich plötzlich bemerkte, wie er sich mühsam an einer Palme aufrichtete. Sofort wollte ich ihm zur Hilfe eilen – stockte dann aber, da er es falsch verstehen würde, wenn ich ihn anspreche. Also flitzte mein Mann los und bot seine Unterstützung an.

Ein dankbares Lächeln huschte über sein ganzes Gesicht – nein, es sei alles in Ordnung, er bekäme nur ab und an diese schrecklichen Gelenkschmerzen, die ihn zusammenfahren lassen.

Normalerweise würde sich jeder mit dieser Erklärung zufrieden geben – nicht so mein Mann. Ihr müsst wissen, er ist – wie ich immer sage, ein „verkappter Arzt“, und interessiert sich für alle medizinischen Dinge und kennt sich auch gut aus. Also hörte er ihm mit sehr großen „Arzt-Ohren“ zu, stellte hier und da Fragen und beide waren tief in dieses „Fachgespräch“ versunken.
Ich hingegen war wieder auf meinem Strandlaken und genoss die warmen Sonnenstrahlen.

„Der ist nett“, waren die einzigen Worte meines Mannes und „wir haben uns für heute Abend an der Bar verabredet“ o.k., dachte ich, dann schauen wir mal. Ja, da saßen wir nun nebeneinander auf unseren Barhockern, prosteten uns zu und hörten andächtig zu, was er uns erzählte.

Der lange und breite Strand von Jaco
Der lange und breite Strand von Jaco

 

Volker, war alles andere als ein „Spasti“ und konnte weit mehr als nur Bier trinken. Volker hatte eine Gelenkentzündung und wollte diese hier in der warmen Sonne Costa Ricas auskurieren. Ab und zu sacke er noch zusammen, aber, es ginge ihm jetzt schon viel besser.

Volker war Pater und zwar ein sehr erfolgreicher. Als kaufmännischer Leiter führte er – gemeinsam mit seinen Brüdern – einen katholischen Orden, die Krankenhäuser – vor allem für Arme – in der ganzen Welt hatten. Außerdem leitete er eine Praxis für Supervision, Coaching, Personal und Organisation.

Fortan trafen wir uns jeden Abend zum Essen oder zum Absacker an der Bar und redeten miteinander. Volker führte ein bewegtes Leben zwischen dem Orden einerseits und den zielstrebigen Menschen, die in seine Praxis kamen, andererseits.

Immer wieder merkte ich, wie sehr mich seine Worte und seine Weltanschauung berührten. Unsere Themen waren vielfältig, manchmal heiter und unverkrampft, oft aber auch tiefgründiger.
„Wenn ich für eine Sache alles gegeben habe, sie mit meinem Wissen, meiner Erfahrung und meinem Einsatz gut gemacht habe,“ sagte er „und wenn dann aber andere Menschen Einfluß nehmen, und ich somit die Sache nicht mehr unter meiner Kontrolle habe und sie dann aus dem Ruder läuft, kann ich mir keine Vorwürfe machen“.

Also mit anderen Worten so fasste er zusammen: „Geben sie immer ihr Bestes. Machen sie es in erster Linie für sich selbst. Wenn sie immer das Beste geben, kommt die innere Zufriedenheit von selbst – sie fühlen sich gut und haben nie mehr ein schlechtes Gewissen.“

Übrigens: Das Getuschel und die merkwürdigen Blicke der anderen hörten schlagartig auf!

Auch heute noch denke ich gerne an Pater Volker zurück, an sein Lachen und sein Philosophieren – was für ein aussergewöhnlicher Mensch. Ja, manchmal sieht die Wirklichkeit anders aus, als sie wirklich ist!

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